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Frage an alle: ab wann wirds kritisch???

Alles zu (Un)wetter relevant für die Schweiz
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Willi
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Frage an alle: ab wann wirds kritisch???

Beitrag von Willi »

Um die Warn-Kontroverse in eine etwas sachlichere Bahn zu lenken, möchte ich folgende Frage aufwerfen:

********************************************
Ab welcher Regenmenge wird es kritisch?????
********************************************

Mir ist voll bewusst, dass es keine einfache Antwort gibt (Verlauf des Niederschlages, Sättigung der Böden etc...), und ich weiss auch, dass es Hydro-Modelle gibt, welche möglichst alle Risikofaktoren beachten (sollten).

Trotzdem: es gibt bestimmt Erfahrungswerte, die besser sind als gar nichts, und die auch dem Laien helfen, die Regensummen einigermassen einzuschätzen.

Also, welche Summen sind kritisch für

- Gewitterregen (etwa 1 Stunde)
- mehrstündiger Starkniederschlag (z.B. 6 Stunden)
- Dauerniederschlag (1 oder 2 Tage)
???

Bin gespannt wie ein Regenschirm.:O

Gruss Willi
Gruss Willi
Immer da wenn's wettert

Markus Pfister
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Beitrag von Markus Pfister »

Hallo Willi,

eine sehr gute Frage, die nicht einfach zu beantworten ist.
Im hydrologischen Atlas der Schweiz sind für Starkniederschlags
Ereignisse statistische Beziehungen zu finden. Du kennst die
sicherlich. So werden beim Niederschlag

Dauer, Wiederkehrperiode (1901-1970) und Menge

angegeben. Wenn ich jetzt konkret gefragt würde, WANN wird
es WO bei WELCHER Menge in WIVIEL Stunden gefährlich, und
zwar ALLEINE aufgrund des Regens, dann würde ich analog dem
hydrologischen HQ100 ein NN100 nehmen. Ich würde also mit den
mir zur verfügung stehenden Formeln und Karten für einen
bestimmten Ort die Menge ermitteln, die in einer bestimmten
Zeit alle 100 Jahre einmal zu erwarten ist.

In den vom Unwetter betroffenen Gebieten beträgt das NN100
für ein 24-Stunden-Ereignis 150 bis 170 Liter/Quadratmeter.
Natürlich ist das ein theoretischer Wert, der noch dazu aufgrund
von nicht einmal 100 Jahren Erfahrung zustande gekommen ist. Das
ist problematisch, dessen bin ich mir bewusst, aber trotzdem wäre
das eine für mich akzeptable Art und Weise, an die Sache objektiv
heran zu gehen.

Über die Frage, was denn nun zu tun ist, wenn BOLAM ein NN100
zeigt, können wir ja in einem anderen Thread diskutieren, denn
der Meteorologe muss ja in diesem Fall zuerst entscheiden, ob er
dem BOLAM trauen soll, oder nicht.

Beim Hochwasser-Ereigniss von Donau und Elbe war ich dem einen
Foto aus Passau sehr angetan. Es handelte sich um eine
\'Hochwasser-Statistik\' an einer Gebäudefassade, die bis 1500
zurück reicht. DAS ist natürlich ein statisischer Background,
der einen mehr Sicherheit gibt, als die Periode 1901-1970, aber
was wollen wir machen? Wir haben kaum oder nur wenige längere
Niederschlags-Reihen zur Verfügung, wenn man von den durch Proxy-
Daten konstruierten Tabellen einmal absieht.

Hier zum Abschluss noch das tolle Bild

Bild

Gruss

Markus

PS. Den hydrologischen Atlas kann man in vielen
naturwissenschaftlichen Uni-Bibliotheken finden. Man kann
ihn bzw. Tafeln daraus sogar kaufen.

http://www.hydrant.unibe.ch/hades/hadeshome.htm


Markus Pfister
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Beitrag von Markus Pfister »

Hallo,

hier noch ein Link zu einer Karte für die Region Luzern
Sie zeigt die 24h-Menge, die alle 100 Jahre zu erwarten ist:
http://hydrant.unibe.ch/hades/tafel242/tafel242_dt.htm

Für Luzern wird übrigens ein 1-stündiges NN100-Ereignis mit
etwa 60mm, in den Unwettergebieten 90mm angegeben. Pikantes
Detail: Die 90mm in der Ostschweiz sind der höchste Wert
schweizweit! Auch im Tessin wird 90mm in der Gegend vom
Onsernone- und Campotal angegegeben. Dort liegt auch der
höchste 24-stündige NN100-Wert, nämlich 350mm. Auf der
Nordseite der Alpen beträgt der höchste 24-stündige NN100
Wert rund 170mm. Er findet sich wiederum im Unwettergebiet,
aber auch in der Gegend der Mythen sowie im Glarnerland vom
Wäggitaler-See bis nach Ziegelbrücke.

So, ich hoffe, ich langweile niemanden (und werde nicht
Erbslizähler genannt)

Gruss

Markus

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Stephan
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Beitrag von Stephan »

Ciao Forum

Ich denke, der Vorschlag von Markus wär mal ein erster guter Schritt in die richtige Richtung. Die Gleichung Wiederkehrperiode(Niederschlag) = Wiederkehrperiode(Abfluss) wird auch in Hochwasserabschätzmethoden verwendet, sie wird der Realität zwar nicht gerecht, taugt aber als erste Näherung durchaus.

Leider wurden für die Kartenblätter 2.4 und 2.4^2 des HADES nur die Periode 1901 bis 1970 ausgewertet. ANETZ-Stationen gibts erst seit 1978 und die paar Pluviographen aus der Zeit lassen sich wohl an einer oder zwei Händen abzählen... Die Stundenwerte der Karten sind also mit wenigen Ausnahmen anhand der Auswertung von längeren Zeiträumen (1- bis 5-Tageswerte) auf die kurzen Zeiträume herunterextrapoliert worden, über die Zulässigkeit ist in der Vergangenheit auch schon ordentlich gestritten worden. Generell lässt sich die Zulässigkeit nur aufgrund der Niederschlagsklimatologie beurteilen: Für den Rietholzbach (Gruss ans IAC-ETH) hab ich das in meiner DA mal untersucht, dort haut es sehr ordentlich hin, ein Gegenbeispiel ist das Wallis (Region Visp): Die hohen Jährlichkeit für Zeiträume>24h entstehen bei Südost-Staulagen (September 93, Oktober 2000). Wenn man die Anzahl der Tage mit Nahgewittern (in dieser Region gemäss Klimaatlas der Schweiz weniger als 5) als Indiz für das Potential von kurzen, rein konvektiven Niederschlagsereignissen nehmen will, kommt man zum Schluss, dass das dort nicht hinhauen kann. Inzwischen haben wir mehr als 30 Jahre hochauchflösender Daten von fast 70 ANETZ-Stationen mit Niederschlagsmessung zur Verfügung, dazu kommen die ganzen Pötte der Unis, von Forschungsinstituten, Tiefbauämtern etc., es wird Zeit, dass mal eine dritte Starkniederschlagskarte an die Hand genommen wird... aber woher kommt der 7-stellige Betrag, der für die Erarbeitung nötig ist?

Die Differenzierung nach den aktuellen meteorologischen bzw. den generellen niederschlagsklimatischen Verhältnissen ist bezüglich Hochwasser, Murgängen, Rutschungen etc. eine Sache, daneben kommt, wie bereits Willi angetönt hat, auch der Boden, die Geologie und die Geomorphologie ins Spiel. Jeder Boden ist eine Funktion von Klima und Geologie und den lokalen Niederschlagsverhältnissen bis zu einem gewissen Grad angepasst. 100mm/Tag im Alptal bei Einsiedeln bringen anständig hochgehende Bäche aber noch keine Schäden, dieser Gebietsniederschlag irgendwo im Mittelland, und der Teufel ist los! Konsequenz daraus: wenn, dann muss flächendifferenziert gewarnt werden; prioritär Gebiete, welche in Gefahrenkarten als gefährdet ausgeschieden sind. Damit wäre ein wichtiger Beitrag zur Schadenminimierung geleistet.

Andererseits sind Extremereignisse mit ganz kleiner Wahrscheinlichkeit immer und überall möglich; es stellt sich nicht die Frage OB sie kommen, sondern WANN sie kommen. Darum müssen die Gebietseigenschaften flächendeckend bekannt sein, bezüglich quantitativer und somit warnungstechnisch verwertbarer Daten sieht es in der Schweiz (und nicht nur hier) noch trauriger aus als beim Meteo-Messnetz. Bodenfeuchte? Mächtigkeit der hydrologisch relevanten Schichten? Nur zwei Beispiele... Variablen und Randbedingungen, die man mit Ach und Krach versucht zu parametrisieren, über die man letztendlich aber wenig bis nichts weiss... Für grosse Einzugsgebiete mitteln sich die Fehler grobaufgelöster Daten einigermassen aus, will man für kleine Einzugsgebiete etwas Aussagen, dann müssen hochauflösende Daten her, ein kleiner (utopischer) Wunschzettel für bessere Kenntnisse der Randbedingungen:
- Flächendeckendes Digitales Höhenmodell mit 5m-Raster (die höchste flächendeckende Auflösung, die heute erhältlich ist, beträgt 25m, eine Betriebslizenz kostet 360000 Franken... den Preis für die Erstellung eines 5m-DHM kann man erahnen...)
- Flächendeckende Bodenkarte im Massstab 1:5000, dazu für jede Einheit 2-3 Bodenprofile... (heute gibts die Bodeneignungskarte im Massstab 1:200000, für einzelne Kantone Bodenkarten im Massstab 1:50000...)

Eure Meinungen?

Gruss, Stephan


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Willi
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Beitrag von Willi »

Schon mal besten Dank Markus und Stephan für die umfassenden und kompetenten Antworten. Wie Stephan festhält, spielen die lokalen Gegebenheiten eine grosse Rolle. Damit sind alle angesprochen, welche die Folgen von Starkregen schon persönlich miterlebt haben, und vielleicht auch die gefallene Regenmenge und Dauer an ihrem Wohnort kennen. Meinungen dazu?

Zum Ereignis vom Wochenende haben wir eine erste Radar-Analyse bereitgestellt, welche über folgende Adresse abgerufen werden kann:

www.radar.ethz.ch/archiv_020831

Gruss Willi
Gruss Willi
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Christoph Siegrist
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Beitrag von Christoph Siegrist »

Hallo Willi,
interessanter Bericht, danke!
Hast Du mal abgeschätzt, wie stark der Starkniederschlag um St. Gallen den Niederschlag östlich
davon abgeschattet hat? Das Albisradar stand da glaub ich etwas unglücklich. Wenn man noch die Deutschen
Radars dazunimmt, könnte es ein besseres Bild geben. Schau mal auf den Radar-loop im Spezwetterbericht
vom 1.9. (http://www.sfdrs.ch/sendungen/meteo/spe ... index.html, dann unten den 1.9.2002
wälen und im Text auf den Loop-Link gehen). So um Mitternacht giessts Richtung Osten beträchtlich.

Gruss,
Christoph


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Willi
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Beitrag von Willi »

Hallo Christoph

Hab ich angeschaut, besten Dank. Dein Radarbild vom 1.9. 0040h zeigt ein schoenes Band ueber St. Gallen. Habe die Niederschlagssumme 0030-0040 nachgerechnet, und da ist das Band tatsaechlich schwaecher resp. unterbrochen:

http://www.sturmforum.ch/forum_uploads/ ... 100340.gif

Die deutschen Radars sehen das Band besser, d.h. mit geringerer Abschwaechung.

Nur: auch das abgeschwaechte Albis-Radar sieht immer noch zu viel Niederschlag, wenn man mit der Bodenstation vergleicht. Wenn man die deutschen Radars dazunimmt, muss man halt umso mehr nach unten korrigieren.

So oder so kommt man um die Bodenstationen nicht herum, wenn man Regenkarten aus den Radardaten berechnen will. Das zu zeigen war das Ziel unserer Uebung.

Gruss vom Hoenggerberg

Willi:-)
- Editiert von Willi am 04.09.2002, 10:05 -
Gruss Willi
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