"Robuste Sicherheit"
Zitat:
Spiegel Online
Reaktorsicherheit
Grande Atom-Nation in der Bredouille
Von Cinthia Briseño und Stefan Simons
REUTERS
Am Stresstest gescheitert: Frankreichs Atommeiler sind nach Einschätzung von Inspektoren nicht katastrophensicher - jetzt fordern Behörden die unverzügliche Nachrüstung sämtlicher AKW im Land. Muss der größte Nuklearpark der Welt drastisch reduziert werden? Die Atomlobby fürchtet eine Energiewende.
In den Monaten nach der Katastrophe von Fukushima, als Experten weltweit von den Behörden ausgesandt worden waren, um die Sicherheit ihrer Meiler zu überprüfen, erlebte Frankreich einen Schockmoment: Am 12. September ereignet sich in der südfranzösischen Atomanlage Marcoule eine Explosion, bei der ein Arbeiter ums Leben kam und vier weitere verletzt werden. Explodiert war ein Verbrennungsofen für schwach radioaktive Abfälle.
War Radioaktivität ausgetreten? Anwohner brachten sich in Sicherheit. Der Alarmzustand dauerte eine Weile, bis die französische Atomaufsicht nach einigen Stunden endlich offiziell Entwarnung gab.
Zwar löste der Zwischenfall im Musterland für Atomenergie bei weitem keinen Sturm der Entrüstung aus. Und doch kam nach Fukushima und dem Vorfall von Marcoule kräftig Bewegung in die französische Atomdebatte: So haben sich jetzt die französischen Sozialisten (PS) und die Grünen Les Verts/France Écologie (EELV) wenige Monate vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen auf ein politisches Bündnis geeinigt. Es sieht unter anderem vor, den größten Nuklearpark der Welt drastisch zu reduzieren: Bis 2025 sollen, so der politische Plan, von den insgesamt 58 Reaktoren (die sich auf 19 AKW verteilen) 24 stillgelegt werden.
Die Übereinkunft folgt der Linie der Sozialisten. Deren Präsidentschaftskandidat François Hollande hatte das Wahlversprechen abgegeben, den Anteil des Atomstroms in Frankreich auf 50 Prozent zu verringern. Ein ambitioniertes Ziel in einem Land, dass derzeit fast 80 Prozent seiner Elektrizität aus der Atomenergie bezieht.
Kleine Fehler - schwere Auswirkungen
Möglicherweise, so die Hoffnung der Grünen, könnte die Energiewende aber doch noch drastischer ausfallen. Anlass gibt ein 500-seitiges Papier, dass das französische Institut für Strahlenschutz und nukleare Sicherheit (IRSN) am Donnerstag vorgelegt hat. Die Bilanz ist für AKW-Betreiber, französische Stromkonzerne und Atomlobby alles andere als erfreulich: Nach Meinung der Inspekteure ist kein einziger Atommeiler in Frankreich hundertprozentig katastrophensicher.
So schnell wie möglich, so die Forderung der IRSN-Wissenschaftler, seien alle 58 Reaktoren nachzurüsten. Dennoch legte man Wert auf vorsichtige Formulierungen: "Die Reaktoren stellen keine unmittelbare Gefahr für die Öffentlichkeit dar", heißt es etwa. Auch von einer "
robusten Sicherheit" ist darin die Rede. Doch fast jeder Sicherheitsbeteuerung folgt ein "aber".
Bei der Pressekonferenz in Paris fasste IRSN-Chef Jacques Repussard den Zustand der französischen Atommeiler so zusammen: "Das sind kleine Fehler, die schwere Auswirkungen haben können." Und auch er beeilte sich, den Nebensatz hinzuzufügen, dass insgesamt die Anlagen aber sicher seien.
Das große "Aber" des IRSN-Berichts bezieht sich auf Szenarien, die jenseits des bisher Vorstellbaren liegen. Analysiert und simuliert wurden bei dem Stresstest Extremsituationen, die beim Bau der Meiler nicht vorgesehen waren: Naturkatastrophen wie Erdbeben, Fluten oder gar Tsunamis an der Mittelmeerküste. Explosionen, Brände, Stromausfälle und andere Ereignisse, die einen Einfluss auf die Reaktoren haben könnten.
"Gewisse Elemente der Konzeption der Reaktoren und ihre Auslegung gegenüber schweren nuklearen Unglücken müssen überdacht werden", resümierte Repussard bereits im Juni. "Ob Natur- oder technische Katastrophe, terroristischer Anschlag oder menschlicher Fehler - diese Möglichkeiten wurden nicht systematisch in Betracht gezogen, stets unter dem Hinweis: 'Das wird nie passieren.' Fukushima hat uns das Gegenteil gelehrt." Man müsse sich auch das Unvorstellbare vorstellen.
So soll etwa das AKW von Fessenheim im Elsass unweit der deutschen Grenze einem Erdbeben der Stärke 6,7 standhalten. Der Sicherheitsnorm nach muss die Belastungsgrenze um 0,5 Punkte über dem stärksten bekannten Erdbeben liegen. Dieses hatte 1356 im benachbarten Basel Schätzungen zufolge eine Stärke von 6,2 gehabt. In ihrem Bericht stellt die IRSN aber fest, dass einige Röhrensysteme des AKW bei einem Erdbeben auseinanderbrechen würden.
Auch Dampf- und Notstromgeneratoren seien nicht überall ausreichend gegen Extremsituationen geschützt, schreiben die IRSN-Wissenschaftler. So gebe es beispielsweise nicht genug Wasserreserven für Notfälle in Dampfgeneratoren, heißt es in dem Bericht. Deshalb sei es notwendig, weitere Mechanismen in die Reaktoren einzubauen, die wichtige Funktionen wie Kühlung und Stromzufuhr schützten. Zum Beispiel sollte jeder Reaktor über mindestens einen Dieselgenerator an abgelegener Stelle verfügen, der auch im Falle eines sehr starken Bebens nicht ausfalle.
Ob die geforderten Nachrüstungen im Einzelnen genügen und jeden Reaktor in Frankreich tatsächlich vor dem Unvorstellbaren bewahren würden, lässt sich nicht sagen. Klar ist aber, dass die erfolgsverwöhnte Atomindustrie Frankreichs nicht zur Tagesordnung übergehen kann. "Maßnahmen wie die Nachrüstung zusätzlicher Notstromdiesel sind sicher sinnvoll", sagt der Pressesprecher der deutschen Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS), Sven Dokter. "Ob die Empfehlungen abdeckend sind, können wir aber nicht beurteilen - dazu müsste man die französischen Anlagen schon sehr genau kennen."
Bis Ende des Jahres will die französische Atomaufsichtsbehörde ASN die Schlussfolgerungen aus der IRSN-Analyse ziehen und ihrerseits einen Bericht vorlegen. Diese Zeit wird die Atomlobby in Frankreich kaum ungenutzt lassen und eine neue Strategie ausarbeiten. Schon jetzt warnt sie vor den Folgen eines Atomausstiegs: Bis zu eine Million Menschen könnten dann ihren Job verlieren, auch das Bruttoinlandsprodukt könnte dadurch beeinträchtigt werden, ließ Henri Proglio, der Chef des Energiekonzerns EDF, vor kurzem wissen.
Auch Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy beharrt auf seiner Position: Solange er Präsident sei, werde es keine Abkehr von der Atomkraft geben.
__________________
Gruss
Urbi