Passt eigentlich ganz gut hier rein (Story zum Winter, wie immer für das Sturmforum barrierefrei):
Hier gehts zum Original (mit Bildern und Grafiken): 
https://www.tagesanzeiger.ch/erdbeeren- ... 8308350387
Als in der Schweiz Erdbeeren im Februar reiften
Ultra-milde Winter gab es schon vor der Industrialisierung. Warum das aber kein Argument gegen die Tatsache ist, dass der Klimawandel menschgemacht ist.
Der Winter 2022/2023 war in der Schweiz einer der mildesten seit Messbeginn. Gemäss Meteo Schweiz lag er im landesweiten Mittel 1,4 Grad über der aktuellen Klimanorm 1991–2020. Vor allem zwei markante Wärmeperioden – von Ende Dezember bis Mitte Januar und in der zweiten Februarhälfte – trugen zu diesem Wärmeüberschuss bei. Zudem war der Winter sehr trocken und schneearm, was in vielen alpinen Skigebieten für erhebliche Probleme sorgte.
Die Bilder von grünen Alpenhängen, über die sich Skifahrer auf dünnen weissen Kunstschneebändern talwärts kämpfen, sorgten für Schlagzeilen. Es sind Bilder, an die man sich in Zukunft mit Fortschreiten der Klimaerwärmung wohl wird gewöhnen müssen.
Denn: Milde Winter sind in den letzten Jahrzehnten zur Regel geworden. Im Vergleich zur vorindustriellen Periode 1871–1900 ist der Winter in der Schweiz im Durchschnitt 2,1 Grad wärmer geworden. Der letzte extrem kalte Winter 1962/63 liegt mittlerweile 60 Jahre zurück. Verglichen mit den grimmigen Wintern der vorindustriellen Periode waren die kältesten Winter der letzten drei Jahrzehnte höchstens durchschnittlich.
Wer allerdings glaubt, dass die Winter im Alpenraum seit je immer kalt und schneereich waren, der täuscht sich. Das zeigt ein Blick zurück in die Annalen der Meteorologie. Klimadaten sind hierzulande zwar erst etwa seit Ende des 19. Jahrhunderts einheitlich verfügbar. Die Menschen beobachteten und dokumentierten allerdings bereits in den Jahrhunderten zuvor das Wetter.
«Diese Schilderungen zeigen, dass Winter mit frühlingshaften, ja sommerlich anmutenden Temperaturen sowie Schneelosigkeit auch in den vergangenen Jahrhunderten durchaus bekannte Witterungsmuster waren», sagt Stephan Bader, Klimatologe von Meteo Schweiz.
Wer beispielsweise das 1882 verfasste Büchlein «Naturchronik der Schweiz» des Botanikers Christian Georg Brügger liest, hat bei seinen Ausführungen teilweise regelrechte «Déjà-vu»-Erlebnisse. Gemäss Stephan Bader deuten diese Chroniken darauf hin, dass es in der Vergangenheit sogar immer wieder Phasen gab, in denen Mildwinter gehäuft und über Jahre hinweg auftraten. Einige Beispiele:
Erdbeeren im Februar: 1538
Ausserordentlich warm war der Winter in der Schweiz 1529/30. Der Schnee blieb aus, und Ende Januar 1530 setzte die Baumblust ein, derweil «Frühlingsblumen in den Gärten ihre Farbenpracht entfalteten». 1537/38 folgte ein weiterer erstaunlich warmer Winter, in dem im Februar bereits die Erdbeeren reiften. Zwei Jahre später (1540) erhob sich in der Schweiz ab Februar eine «nie erlebte Wärme». Bereits im März reiften die Kirschen. Die extreme Wärme setzt sich den ganzen Sommer über fort (1540 war einer der markantesten Hitze- und Trockensommer in Europa in historisch dokumentierter Zeit) und dauerte bis Dezember.
Gras mähen im März: 1607
Hinweise auf noch extremeres Wetter sind in der Chronik im Winter 1606/07 zu finden. Im Januar 1607 haben in der Bündner Herrschaft die Kirschbäume geblüht, und Mitte Februar sollen die Störche zurückgekehrt sein. «Das lässt auf eine sehr grossräumige winterliche Wärmeanomalie schliessen», sagt Stephan Bader. Anfang März standen dann die Birnen und Trauben in Blüte, und das Gras konnte bereits gemäht werden. Warm und schneearm war zuvor bereits der Winter 1603/04 und anschliessend die Winter der Jahre 1610/11 und 1612/13.
Niemals Frost im Mittelland: 1749
Im Winter 1746/47 legte sich ebenfalls eine ausserordentliche Wärme über die Schweiz. Im Januar 1747 gingen die Kinder demnach barfuss, und «Veilchen und Erdbeeren blühten». Heizen war nicht nötig. Nur wenige Jahre zuvor, 1743/44, bescherte der Winter den damaligen Zeitgenossen ebenfalls beständige Wärme und schönes Wetter. Und bereits 1748/49 folgte abermals ein Winter mit ungewöhnlicher Wärme. Im schneelosen Januar 1749 soll es im Berner Mittelland niemals Frost gegeben haben.
Zu Fuss über den Panixerpass: 1797
Im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts wird von ausgeprägter Milde und Schneelosigkeit bis in grosse Höhen berichtet. «Das erinnert lebhaft an die grünen Hänge und stillstehenden Skilifte aus unserer Zeit», sagt Stephan Bader. Der Winter 1796/97 blieb im bündnerischen Brigels (1300 Meter) sozusagen schneefrei. Nach einer sommerlichen zweiten Dezemberhälfte herrschte von Januar bis März vorwiegend schöne Witterung, und die Leute aus dem Glarnerland konnten gefahrlos über den Panixerpass nach Brigels kommen. Neben diesem Winter warteten in den 1790er-Jahren fünf weitere Winter mit sehr milden Temperaturen auf.
Staubige Strassen statt Schnee: 1885
Im hoch gelegenen Engadin sind schneearme Winter zwar selten. Aber selbst für diese Region finden sich in den Chroniken Hinweise auf extrem schneearme Winter oder auch mehrjährige Perioden mit ausgeprägter Schneelosigkeit. Im Jahr 1885 liess beispielsweise die milde und trockene Witterung den Herbstschnee verschwinden. Ende Dezember hatte man im Oberengadin «staubige Strassen und schneegefleckte Wiesen». Anstelle der üblichen Schlitten mussten wieder Wagen angespannt werden.
Um Mildwinter zu finden, reicht allerdings auch ein Blick in die nähere Vergangenheit. Mit dem Winter 1987/88 setzte in den Schweizer Alpen zum Beispiel eine Periode mit extrem milden und schneearmen Wintern ein. Die Dezemberwärme 1987 führte in den Bergen zu ausgesprochenem Schneemangel. Bis in eine Höhe von über 2000 Meter fiel Regen.
Auf den milden Dezember 1987 folgte ein noch milderer Januar 1988. Bereits im Folgewinter wiederholte sich ein ähnliches Spiel mit Wärme und Schneeknappheit im Januar 1989. Ganz extrem wurde es dann im Winter 1989/90. Zwischen Weihnachten und Neujahr war Wintersport nur oberhalb von 2000 Meter möglich. In Montana und in Verbier im Wallis wurden als Alternative zum Schneesport die Golfplätze wieder eröffnet.
Doch wie erklärt es sich, dass bereits in der vorindustriellen Zeit, als der menschgemachte Klimawandel noch kein Thema war, derartige Wärmeanomalien im Winter auftraten? Und stellt das allenfalls sogar den Klimawandel infrage?
Zunächst ist es wichtig, zu betonen, dass der Winter die Jahreszeit mit der grösstmöglichen Variabilität an Wetterlagen ist. Je nach Herkunft der dominierenden Luftmassen stellt sich ein völlig anderes Temperatur- und Niederschlagsregime ein. Die Bandbreite reicht dabei von milder Subtropenluft (bei Südwestlagen) bis zu eiskalter Kontinentalluft (bei Nordostlagen).
Aufgrund dieser natürlichen Variabilität ist der Winter prädestiniert für extreme Wetterkonstellationen. So erklären sich auch die enormen Schwankungen, über die in den historischen Chroniken berichtet wird. Und der Winter bleibt nicht zuletzt wegen dieser Variabilität weiterhin eine «Wundertüte». Im Alpenraum muss daher auch in Zukunft mit kalten und schneereichen Wetterabschnitten gerechnet werden – trotz des Klimawandels.
Aber: Die Wahrscheinlichkeit für kalte Winter hat bereits messbar nachgelassen und wird weiter nachlassen. «Die historischen Aufzeichnungen zeigen zwar, dass extrem milde Winter als Phänomen bei uns nichts Neues sind. Neu ist heutzutage jedoch die Häufung von solchen Nicht-Wintern», sagt dazu Stephan Bader.
Extreme Mildwinter waren in früheren Jahrhunderten also aufsehenerregende Episoden, die sich stark vom gefühlten «Normalzustand» unterschieden. Heute verdreht sich das Ganze mit dem Klimawandel allmählich ins Umgekehrte. «Warmwinter gehören jetzt zu unserer normalen Wintererfahrung», sagt Bader. Für Aufsehen sorgen hingegen kalte Episoden – wenn sie denn hin und wieder auftreten.