Re: Downburst/Hagel 23.07.2023/24.07.2023
Verfasst: Mi 26. Jul 2023, 11:42
Neues Video vom Downburst:
https://twitter.com/the_aeschli/status/ ... 5994166273
https://twitter.com/the_aeschli/status/ ... 5994166273
In Zusammenarbeit mit meteoradar
https://sturmforum.ch/
Es waren Bilder wie aus einem Kriegsgebiet, die am Montag, 24. Juli, aus dem Neuenburger Jura an die Öffentlichkeit gelangten. Sie zeigten abgedeckte Häuser, zerstörte Fassaden und Fenster, umgekippte Lastwagen, geknickte Bäume und zusammengedrückte Autos. Innerhalb von nur wenigen Minuten hatte eine Gewitterzelle La Chaux-de-Fonds überquert und dabei enorme Verwüstungen angerichtet. Die traurige Bilanz: Ein Todesopfer, mehr als 40 Verletzte und Schäden in Millionenhöhe.
Noch am Montag machten sich Experten daran, die Geschehnisse zu untersuchen und einzuordnen. Einer von ihnen ist Dominic Blaser. Der Berner ist ein erfahrener «Stormchaser» (Sturmjäger) und Gewitterexperte, der unter anderem schon mehrfach im Mittleren Westen der USA unterwegs war und dort Superzellen und Tornados untersuchte. Auch aktiv wurde der ehemalige ETH-Doktor und Radarexperte Willi Schmid. Der Begründer des ETH-Spinoff-Unternehmens Meteoradar analysierte die Radardaten des Gewitterereignisses.
Diese Analyse basiert auf ihren Erkenntnissen.
Günstige Ausgangslage für heftige Gewitter
Bereits kurz nach dem Ereignis gab es erste Spekulationen darüber, welches meteorologische Phänomen diese Schäden angerichtet haben könnte. Augenzeugen berichteten zunächst von einem Tornado. Die Wetterdienste und auch Gewitterexperten waren zurückhaltender: Angesichts der Bilder und Videos aus La Chaux-de-Fonds gingen sie eher von einer starken Gewitter-Fallböe, einem sogenannten Downburst aus.
Tornados sind Luftsäulen mit Bodenkontakt, die sich in Form eines Schlauchs oder Trichters unterhalb einer Gewitterwolke bilden. Downbursts hingegen sind kalte Abwinde, die aus grosser Höhe aus einer Gewitterwolke zu Boden stürzen. Beide Phänomene haben meteorologisch betrachtet durchaus Gemeinsamkeiten – und dennoch sind sie letztlich sehr unterschiedlich.
Die wichtigste Gemeinsamkeit von Tornados und Downbursts ist, dass sie oft im Zusammenhang mit Superzellen auftreten. Superzellen sind die stärkstmöglichen Gewitter. Damit sich aus einem Gewitter eine Superzelle entwickeln kann, ist eine gut ausgeprägte Windscherung in der Atmosphäre nötig. Das bedeutet: Der Wind nimmt mit der Höhe zu und ändert dabei oft auch seine Richtung. Wesentliches Merkmal einer Superzelle ist eine hochreichende, anhaltende Rotation des Aufwindbereichs, die sogenannte Mesozyklone.
Am Montag waren die atmosphärischen Bedingungen für Superzellen über dem Jura gegeben. Meteo Schweiz schreibt dazu in einem Blogbeitrag: «Eine sehr labile Atmosphäre, verbunden mit einer starken Windzunahme mit der Höhe, liess die Entwicklung potenziell heftiger Gewitter am Montag in der Schweiz erwarten.»
11 Uhr: Das Radar zeigt eine Superzelle
Die Gewitterzelle, die später La Chaux-de-Fonds verwüsten sollte, bildete sich am späteren Vormittag auf der französischen Seite des Jurabogens. Um 11 Uhr befand sie sich kurz vor der Schweizer Grenze auf Höhe des Kantons Neuenburg. «Die Trägerzelle des Sturms von La Chaux-de-Fonds und Umgebung war bereits zu diesem Zeitpunkt ohne Zweifel eine Superzelle», erklärt Radarexperte Willi Schmid.
Das zeigt sich beim Blick auf die Bilder des Doppler-Niederschlagsradars. Solche Radarbilder werden oft zur Analyse von Unwettern herangezogen. Sie zeigen die Stärke und die Bewegung des Niederschlags in einer Gewitterzelle anhand der Reflektivität der Regentropfen. Je intensiver der Niederschlag ist, desto kräftiger ist das Radarsignal. Das Radar bietet zudem neben dem flächigen Blick auch einen vertikalen Querschnitt. Es ist also auch erkennbar, wie hochreichend eine Gewitterzelle ist und wie weit die Niederschlagsteilchen innerhalb der Wolke in die Höhe transportiert werden.
Die Daten belegen an diesem Montag um 11 Uhr eine Mesozyklone mit einer horizontalen Ausdehnung von einigen Kilometern innerhalb der Gewitterwolke.
Es war also zu diesem Zeitpunkt klar, dass sich eine Superzelle dem Neuenburger Jura näherte.
Aber: Dass sie später mit derartiger Heftigkeit über La Chaux-de-Fonds hereinbrechen würde, war trotzdem kaum vorhersehbar. Die Zelle wies gemäss Willi Schmid nämlich nur eine moderate Stärke auf. Dies vor allem im Vergleich zu den enormen Superzellen, die später über Norditalien zogen. «Es war also bei weitem keine ausgeprägte Hagelzelle», betont Schmid.
Auch die Zugrichtung des Gewitters war in gewisser Weise untypisch für eine Superzelle. Diese blieb mehr oder weniger konstant in Richtung Ost-Nordost, bei einer Zuggeschwindigkeit von etwa 70 km/h. «Bei der Verstärkung einer Superzelle beobachtet man oft eine markantere Rechtsabweichung. Das war hier nicht der Fall», sagt Schmid.
Wieso aber richtete diese vergleichsweise moderate Superzelle derart verheerende Schäden an?
Ein roter «Batzen» in 4 Kilometern Höhe
Willi Schmid glaubt, die Gründe dafür gefunden zu haben. Dafür ist wieder ein Blick auf den Radar nötig. Um 11.20 Uhr überquert die Superzelle die Grenze zur Schweiz. Sie steht jetzt kurz vor La Chaux-de-Fonds. Auf der Fläche des Radarbilds ist eine deutliche Vergrösserung des rot-violetten Bereichs sichtbar. Die Superzelle hat also an Stärke zugelegt.
Beim Blick auf den vertikalen Querschnitt wird etwas Aussergewöhnliches erkennbar. Dieser zeigt ein Zentrum mit hoher Reflektivität (ein «Batzen» aus roter Farbe) in einer Höhe von etwa 4 Kilometern. «Auffallend ist, dass die Reflektivität unter diesem Zentrum deutlich geringer war», sagt Willi Schmid.
Um 11.30 Uhr, erneut 10 Minuten später, ändert sich dieses Muster wieder. Die farbliche «Anomalie» in der Höhe von rund 4 Kilometern löst sich auf und verschwindet rasch.
Zum Zeitpunkt dieses Vorgangs wird an der Meteo-Schweiz-Wetterstation in La Chaux-de-Fonds eine maximale Windgeschwindigkeit von 217 km/h gemessen.
Was war passiert?
«Ich interpretiere es so, dass sich zwischen 11 und 11.20 Uhr ein grosser Bereich aus Hagel und Wolkenwasser auf mittlerer Höhe in der Gewitterzelle aufbaute», sagt Willi Schmid.
Entscheidend war nun, dass diese «Ladung» während längerer Zeit im Bereich des Aufwindwirbels der Superzelle «gefangen» war. Es konnte also kein Niederschlag vorzeitig zu Boden gelangen, was eine Art Ventilwirkung gehabt hätte.
Dann aber brach der Aufwind in der Superzelle plötzlich zusammen. Das gesamte Hagel- und Regenpaket knallte als Downburst mit einem Schlag zu Boden – genau über La Chaux-de-Fonds.
Willi Schmid verwendet ein einfaches Bild, um den Vorgang zu erklären: «Man halte einmal den Daumen auf einen offenen Wasserhahn – irgendwann drückt es den Daumen weg und es macht platsch.»
Die Erklärungen von Willi Schmid korrespondieren mit den Videos, die vom Durchgang der Superzelle in La Chaux-de-Fonds verfügbar sind. Sie zeigen, dass sich Regen und Wind zum besagten Zeitpunkt wie ein riesiger Sturzbach aus der Gewitterwolke ergiessen und alles am Boden regelrecht verschlingen.
Eine wichtige Rolle dürfte auch die spezielle Topografie im Neuenburger Jura gespielt haben. La Chaux-de-Fonds liegt in einem relativ schmalen Hochtal, das von Südwest nach Nordost ausgerichtet ist. Die Winde innerhalb der Superzelle wurden durch diese topografischen Verhältnisse wohl kanalisiert, was eine zusätzliche Verstärkung zur Folge hatte.
Dieser Effekt ist nicht neu. La Chaux-de-Fonds wie auch das Vallée de Joux wurden in der Vergangenheit bereits mehrfach von starken Gewitterzellen heimgesucht, die sogar Tornados verursachten. Unter Meteorologen und Sturmjägern wird die Region daher auch als «Tornado-Hotspot» der Schweiz bezeichnet.
Neben der Topografie ist dafür auch die exponierte Lage des Juragebirges im Advektionsbereich warm-feuchter Luftmassen aus Südwesteuropa verantwortlich.
Fazit: Kein Tornado, sondern ein Downburst
Klar ist: Im Fall der Superzelle vom letzten Montag kann ein Tornado mittlerweile nahezu ausgeschlossen werden.
Zu diesem Schluss kommt nicht nur Radarexperte Willi Schmid. Auch der Stormchaser Dominic Blaser ist dieser Ansicht. Er begab sich noch am Montagnachmittag ins betroffene Gebiet, um die Schäden zu untersuchen. Sein Verdikt ist klar: «Das war ein extremer Downburst.»
Dafür spricht das Schadensbild, das Blaser angetroffen hat. So sind die Bäume, die umgeworfen oder geknickt wurden, praktisch durchwegs von Südwest nach Nordost ausgerichtet. Auch die Gebäudeschäden und die damit verbundene Verteilung der Trümmerteile weisen ein ähnliches, geradliniges Muster auf.
Das spricht gegen einen Tornado. «Bei einem Tornado, der ja ein rotierender Wolkenschlauch ist, wäre das Schadensbild viel chaotischer und weniger eindeutig», sagt der Sturmjäger.
Bekräftigt wird die Downburst-Theorie zudem durch mehrere Videos, die im Nachgang des Unwetters in den sozialen Medien veröffentlicht wurden.
Dominic Blaser geht davon aus, dass der Downburst auf der Fujita-Skala, mit der die Heftigkeit von Starkwindereignissen anhand des Schadensbilds eingestuft wird, die Stärke F2 erreichte. Das bedeutet: Er erreichte Windgeschwindigkeiten von 180 bis 250 km/h. Dazu passt auch die Spitzenböe von 217 km/h, die um 11.30 Uhr an der Meteo-Schweiz-Wetterstation in La Chaux-de-Fonds gemessen wurde.
Dass die Superzelle ausgerechnet über La Chaux-de-Fonds eine derartige Zerstörungskraft entfaltete, war letztlich eine (verheerende) Laune der Natur. «Vermutlich hat ein spezielles unglückliches Zusammentreffen verschiedener dynamischer Faktoren zu diesem Ereignis geführt», bilanziert Willi Schmid.
Angesichts dieser und anderer extremen Schäden verstehe ich nicht, weshalb MeteoSchweiz die Windspitze von 217 km/h anzweifelt (das Schalenanemometer wäre bei so hohen Windspitzen kaputt gegangen). Die Messstation La Chaux-de-Fonds ist etwa 800 m Luftlinie von dieser Lokation entfernt.Chicken3gg hat geschrieben: ↑Mi 26. Jul 2023, 15:59 Ich habe auf Tiktok ein paar Videos gefunden vom wohl "bekanntesten Schadensstandort" im Industriegebiet in La Chaux-de-Fonds
Aufnahmeort Crêt-du-Locle, Sellita
https://maps.app.goo.gl/AC8Li3VsgCoQP6xX7
https://vm.tiktok.com/ZGJquEUmw/
https://vm.tiktok.com/ZGJqubQ1C/
https://vm.tiktok.com/ZGJquXCwA/
https://vm.tiktok.com/ZGJquu7QE/
https://vm.tiktok.com/ZGJqumdrE/
Der französischsprachige Text ist aber aus meiner Sicht sehr zurückhaltend in der Bewertung, obs ein Downburst oder nicht doch ein Tornado war...Bernhard Oker hat geschrieben: ↑Di 25. Jul 2023, 17:53 Im heutigen Blog von MeteoSchweiz wird der Downburst erklärt:
https://www.meteoschweiz.admin.ch/ueber ... burst.html
https://www.meteosuisse.admin.ch/portra ... fonds.html
Gut möglich, dass die Dinger herstellerseitig einfach nicht bei höheren Geschwindigkeiten getestet/kalibriert wurden.Chicken3gg hat geschrieben: ↑Mi 26. Jul 2023, 17:39 Das Schalenkreuzanemometer hat einen Messbereich bis 35 m/s bzw. 126 km/h.
Vielleicht misst das Ding ja aber doch auch bei 200 km/h noch ziemlich genau
https://www.lambrecht.net/betriebsanleitungen.html, 14512
Hoi Dominic, danke für deine Informationen und Bilder. Auch an Tinu ein Dankeschön für den tollen, schön gestalteten und gut verständlichen Artikel.Die welschen Kollegen (Météo Suisse) lassen es immer noch offen, ob es in Le Locle einen Tornado gab, den die Signatur liess dies vermuten: