Hier noch der Artikel, den ich unter kompetenter Unterstützung von Fabienne für die TA-Titel zum "Polaralarm" geschrieben habe.
Hier gehts zum Original:
https://www.tagesanzeiger.ch/wetter-sch ... 1012414225
Text fürs Sturmforum:
Wird es diesmal in der Schweiz wieder einmal «richtig» Winter?
Was sagen die Langfristprognosen zum Winter? Und welche Rolle spielt dabei der gestörte Polarwirbel? Eine Einordnung.
Es ist zu einem fixen Ritual geworden: Etwa ab Oktober geistern die Schlagzeilen durch den Blätterwald, die auf einen bevorstehenden «Jahrhundertwinter» hinweisen. Kalt soll es werden und schneereich, heisst es jeweils. Auch dieses Jahr ist das nicht viel anders. Unter anderem wurde bereits Anfang November der «Polarwirbel-Alarm» ausgerufen.
Dasselbe geschieht übrigens jeweils auch regelmässig im Frühling. Dann wird über den anstehenden Sommer gemutmasst – und praktisch immer läuft es auf einen drohenden «Glutsommer» oder «Dürresommer» hinaus. Etwas, was beispielsweise im vergangenen Sommer in Mitteleuropa nachweislich nicht der Fall war. Der Sommer war zwar überdurchschnittlich warm, aber keineswegs glutheiss oder zu trocken.
Die «Marktschreierei» im Vorfeld der beiden prägenden Jahreszeiten sei jeweils laut, sagt die unter anderem auf Langfrist-Wetterprognosen spezialisierte Berner Meteorologin Fabienne Muriset. «Eine schonungslose Verifikation des Vorhergesagten findet dann aber im Nachhinein nicht mehr statt», betont sie. Bezüglich der Schlagzeilen schlägt die Expertin deshalb andere Formulierungen vor. «Grosses Stochern im Nebel» wäre weitaus ehrlicher, meint sie.
Winterprognose: Kompliziertes Räderwerk in der Atmosphäre
Um die Problematik zu verstehen, macht es Sinn, sich vor Augen zu führen, was mit den heutigen Mitteln der Technik (inklusive KI) im Bereich der Wettervorhersage überhaupt möglich ist – und was nicht. Grundsätzlich sind exakte Wetterprognosen, also die Aussage darüber, wie das Wetter an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit sein wird, nach wie vor auf einen Zeitraum von drei bis fünf Tagen limitiert.
Der Hauptgrund dafür sind die chaotischen und komplexen Prozesse, die in der Atmosphäre ablaufen. Die Atmosphäre gleicht einem gigantischen Räderwerk, in dem Faktoren wie Temperatur, Feuchtigkeit, Druck, Sonnenschein oder Wind in einem stetigen Zusammenspiel sind. Der Spruch vom Schmetterling, der in Peking mit den Flügeln schlägt, wodurch sich in New York das Wetter ändert, ist zwar mittlerweile etwas abgegriffen, aber durchaus treffend.
Richtiger Kaltwinter ist in der Schweiz kaum noch möglich
Noch viel schwieriger als kurzfristige Wetterprognosen sind Prognosen, die sich über Wochen oder gar Monate erstrecken. In der Meteorologie gibt es sie dennoch: Es handelt sich um sogenannte Saisonal- oder Langfristprognosen. Diese basieren auf riesigen Datenmengen globaler Rechenmodelle.
Im Gegensatz zur herkömmlichen Prognose liefern die Langfristprognosen aber keine exakten Wettervorhersagen. Sie geben lediglich Hinweise darauf, wie sich Temperatur, Druckverhältnisse oder Niederschlag über einen bestimmten Zeitraum hinweg im Vergleich zur langjährigen Klimanorm entwickeln könnten. Vor allem beim Faktor Temperatur sind diese Langfristprognosen mittlerweile treffsicherer als auch schon. Allerdings gilt das nur dann, wenn man sie als das betrachtet, was sie sind: grobe Tendenzen.
Für die nun kurz bevorstehende kalte Jahreszeit (Dezember, Januar und Februar) zeigen die Langfristprognosen verschiedener Wettermodelle allesamt einen Winter, der im Vergleich zur Normperiode 1993 bis 2016 insgesamt zu mild ausfallen soll.
Im Alpenraum ist das Signal für einen milden Winter sogar relativ deutlich. Gemäss Fabienne Muriset wäre alles andere auch überraschend. «Es käme einem Wunder gleich, würden die Langfristmodelle tatsächlich einen Kaltwinter in Europa prognostizieren», sagt sie.
Hauptgrund dafür ist die Erderwärmung. Das Klima hat sich in der Schweiz seit Beginn der regelmässigen Messungen im Durchschnitt um mehr als 2 Grad erwärmt. Eine Folge davon: Die durchschnittliche Schneefallgrenze liegt im Winter heute etwa 500 Meter höher als noch im Jahr 1900. Für einen «richtigen» Kaltwinter, wie sie etwa noch in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts vorkamen, bräuchte es also eine massive Kälteanomalie. «Aber woher soll die kommen?», fragt Muriset.
Für sehr kalte Winterphasen in Mitteleuropa braucht es Luftmassen, die entweder aus Russland oder direkt aus der Arktis stammen. Gemäss Muriset «produziert» Sibirien nach wie vor ordentlich Kaltluft. «Diese Luft gelangt aber extrem selten nach Europa.»
Bleiben die Vorstösse polarer Kaltluft von der Arktis, wie es vor knapp zwei Wochen der Fall war. Wegen der steigenden Meerwassertemperaturen und des stetigen Schrumpfens der Polareisfläche verliert diese Kaltluft aber mehr und mehr ihren «Biss». Die Polarluft strömt bei entsprechender Wetterkonstellation auf dem Weg nach Europa über verhältnismässig mildes Meerwasser und wird auf diese Weise modifiziert, also erwärmt. Was am Ende hierzulande ankommt, reicht vielleicht noch für Schnee und Kälte in höheren Lagen, aber nicht mehr in den Tieflagen des Mittellandes.
Ein sehr kalter oder sogar ein «Jahrhundertwinter» alter Prägung ist unter Berücksichtigung dieser Faktoren also sehr unwahrscheinlich. Allerdings – und das betont auch Fabienne Muriset – heisst das nicht, dass es im Verlauf des Winters nicht zu kalten und auch schneereichen Perioden kommen kann. Diese seien auch im erwärmten Klima weiterhin möglich.
Welche Rolle spielt der Polarwirbel?
Dazu beitragen könnte beispielsweise ein Phänomen, über das in den letzten Tagen ebenfalls viel zu lesen war: die Schwächung des Polarwirbels.
Wie es Meteorologe Andrej Flis von Severe Weather Europe anschaulich erklärt, ist der Polarwirbel im Grunde genommen nichts anderes als ein grosses Tiefdruckgebiet, das wie eine rotierende «Wand» über und um die Polarregionen wirkt. Der Wirbel reicht von der Erdoberfläche bis zur Stratosphäre in über 50 Kilometer Höhe und schliesst die kalte Polarluft ein. Der Polarwirbel ist aufgeteilt in den einen oberen (stratosphärischen) und einen unteren (troposphärischen) Teil.
Ein starker Polarwirbel bedeutet eine starke polare Zirkulation. Diese hält die kalte Luft in den Polarregionen fest und verhindert ihr Entweichen. Dadurch herrschen mildere Winterbedingungen in den meisten Teilen der USA, Europas und anderer mittlerer Breiten.
Der zweite Zustand ist ein Zusammenbruch des Polarwirbels. Ein derart gestörter Polarwirbel kann die kalte Luft viel schwerer «halten», sodass sie nun leicht aus den Polarregionen in mittlere Breiten, also auch nach Mitteleuropa, entweichen kann.
Eine solche Schwächung des Polarwirbels ist derzeit tatsächlich im Gange. Allerdings sind die konkreten Auswirkungen dieses Vorgangs auf unser Wetter nur sehr schwer vorherzusagen. Wie Helge Tuschy, Meteorologe beim Deutschen Wetterdienst (DWD), in einer ausführlichen Analyse aufzeigt, ist es entscheidend, dass sich dieser Prozess nicht nur auf die oberen atmosphärischen Schichten (also die Stratosphäre) beschränkt, sondern auch die darunterliegende wetteraktive Troposphäre erfasst.
Sollte das geschehen, würde die Wahrscheinlichkeit tatsächlich steigen, dass es bis in den Dezember oder sogar in den Januar hinein zu «kalten Überraschungen» in Mitteleuropa kommt. So wie es derzeit aussieht, dürfte diese Ausdehnung auf die Troposphäre allerdings eher nicht erfolgen.
«Kälterekorde sollte man für die Schweiz nicht erwarten»
Helge Tuschy weist ausserdem darauf hin, dass der Zustand des Polarwirbels bei weitem nicht der einzige Faktor ist, der über unser Winterwetter bestimmt. Unter anderem funken auch die Meeresströmungen sowie die (chronisch erhöhten) Meerwassertemperaturen massgeblich hinein.
Zusammengefasst lässt sich also sagen, dass die Chancen auf einen aussergewöhnlich kalten Winter auch in diesem Jahr eher gering sind. An einen Strohhalm können sich Winterfans aber klammern: Der gestörte Zustand des Polarwirbels bietet eine bessere Ausgangslage als auch schon, sodass es zumindest periodisch auch im Flachland winterlich werden könnte. «Kälterekorde sollte man aber keine erwarten, dafür müsste einfach alles perfekt zusammenpassen, was die Ausgangslage schlicht nicht mehr hergibt», sagt Fabienne Muriset.