Aus aktuellem Anlass ein Beispiel zur Lokalklimatologie der Alpen: Vergleich dreier ANETZ-Stationen in den Schweizer Alpen:
06735 Adelboden (1320m)
06724 Montana (1508m)
06745 Ulrichen (1345m)
Lage: http://www.meteoschweiz.ch/data/wetterk ... eratur.gif
Wo liegt am meisten Schnee und warum?
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Hypothese 1 -> HÖHENLAGE ist entscheidend:
Falls nur die Höhenlage entscheidend wäre, mussten in Montana mehr Schnee liegen als in Adelboden und Ulrichen; doch die aktuellen Schneehöhen zeigen ein anderes Bild:
Schneehöhen 15.01.2004
Adelboden: 16cm
Montana: 45cm
Ulrichen: 106cm
Die Höhenlage ist für die Höhe der Schneedecke also sekundär, was ist der entscheidende Faktor? Ist dies die Niederschlagsmenge, vielleicht liegt Adelboden in einem Trockental?
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Hypothese 2 -> JAHRESNIEDERSCHLAGSMENGE ist entscheidend:
Durchschnittliche Jahresniederschlagssummen 1901-60:
Adelboden: 1312mm
Montana: 859mm
Ulrichen: 885mm
Die Verwirrung ist komplett! Es gibt nun zwei Möglichkeiten: a) Die Jahresniederschlagsmenge ist unbedeutend b) die Schneehöhe vom 15.01.2004 entspricht nicht dem klimatologischen Mittel, ist also ein Ausreisser. Verfolgen wir die These des „Ausreissers“.
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Hypothese 3 -> die aktuelle SCHNEEHÖHE wiederspiegelt nicht das klimatologische Mittel.
Klimatologisches Mittel (Median) der Schneehöhe für Januar 1961-80:
Adelboden: 33cm (akt. liegen 49 %)
Montana: 61cm (akt. liegen 74%)
Ulrichen: 82cm (akt. liegen 129%)
Die aktuellen Schneehöhen wiederspiegeln das klimatologische Mittel tatsächlich nur teilweise, aber die Verteilung ist interessant: dort wo die klimatologische Schneehöhe überdurchschnittlich ist liegt mehr Schnee (Ulrichen), dort wo eher wenig Schnee zu erwarten ist, liegt unterdurchschnittlich viel Schnee (Adelboden). Dies macht die Betrachtung erst recht interessant, denn der entscheidende Faktor für die Schneeverteilung muss in den vergangenen Tagen/Wochen besonders ausgeprägt in Erscheinung getreten sein!
Die Jahresniederschlagsmenge kann als Faktor verworfen werden, da auch das klimatologischen Mittel der Schneehöhe fast invers zur Jahresniederschlagssumme verhält: je weniger Niederschlag, desto höher die Schneedecke -> und dies kann ja nicht sein!
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Hypothese 4 -> die NIEDERSCHLAGSSUMME von NOV-JAN ist entscheidend (1901-60):
Adelboden: 273mm (21% der Jahressumme)
Montana: 249mm (29% der Jahrssumme)
Ulrichen: 234mm (26% der Jahrssumme)
Zwar ist auch diese Niederschlagssumme nicht der entscheidende Faktor, doch wird der Widerspruch (vereinfacht gesagt): „viel Niederschlag - wenig Schnee / wenig Niederschlag - viel Schnee“ eliminiert. Die sommerlichen Gewitterregen machen den Jahresniederschlag als Faktor für Schneehöhen unbrauchbar. Zwar liegt das Niederschlagsmaximum bei Adelboden und Montana im Sommer, aber mit verschiedener Grössenordnung (z.B. Juli: Adelboden: 155mm, Montana: 77mm) In Montana ist das Niederschlagsmaximum im August, da Gewitterregen in den Zentralalpen – wegen der fortschreitenden Schneeschmelze – erst dann ihr Maximum erreichen. In Adelboden (Nordalpen) sind die Berge niedriger und die Schneeschmelze früher beendet. Der Unterschied zwischen Montana (29%) und Ulrichen (26%) lässt sich durch die herbstlichen Südostlagen erklären. Ulrichen hat das Niederschlagsmaximum im Oktober. Das warme Mittelmeer und sich verstärkende Zyklongenese im Mittelmeerraum können zu massivem Feuchtetransport gegen das Südostwallis führen.
Die Niederschlagssummen sind in etwa ähnlich, aber vielleicht ist der Schnee-Regen-Anteil unterschiedlich.
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Hypothese 5 – die NEUSCHNEESUMME ist entscheidend (1970-79, Nov.-Apr.):
Adelboden: 517cm
Montana: 450cm
Ulrichen: 547cm
Der Schneeanteil am Niederschlag ist ähnlich, die Neuschneesumme ist für die Schneehöhenverteilung von untergeordneter Bedeutung. Wenn die Schneeakkumulation ähnlich ist, aber die Schneehöhe unterschiedlich, muss der entscheidende Faktor bei der Schneeablation (=Schneeschmelze) gesucht werden! Verschiedene Parameter beeinflussen die Schneeschmelze, beschränken wir uns vorerst auf die Temperatur.
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Hypothese 6 - die TEMPERATURVERTEILUNG ist entscheidend (Jan.Mittel, 1961-90):
Adelboden: -2.2°C
Montana: -2.5°C
Ulrichen: -7.5°C
Et voilà! In Ulrichen kann sich die Schneehöhe aufbauen, da es sich um ein inneralpin abgekoppeltes Lokalklima handelt. Der gefallene Schnee bleibt relativ lange liegen, Schneeschicht um Schneeschicht akkumuliert sich, die Schneehöhe wächst bis Mitte März.
Die Temperatur ist der entscheidende Faktor für den Unterschied zwischen Ulrichen und Adelboden/Montana, aber die Differenz Montana-Adelboden ist unzureichend erklärt.
Warum liegt in Montana mehr Schnee? Nur weil es im Monatsmittel 0.3 Grad kälter ist? Nein, auch hier ist das Monatsmittel ein Wert, welcher die Ursachen verwischt, analog zum Jahresniederschlag. Gibt es Wetterlagen, wo der Temperaturunterschied besonders ausgeprägt ist?
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Hypothese 7 – eine/mehrere WETTERLAGE(N) ist entscheidend:
Wenn dies so wäre, müsste diese Wetterlage in letzter gehäuft aufgetreten sein, da die aktuelle Schneeverteilung zwar dem Mittel entspricht, aber besonders unausgeglichen ist.
In den letzten Tagen war eine lebhafte Westlage dominierend. Da – wie wir bereits feststellen konnten - der Faktor bei der Schneeschmelze zu suchen ist, muss die entscheidende WETTERLAGE nicht in den Kaltphasen der Westlage, sondern (wenn der Schnee schmilzt) in der Warmphase gesucht werden. Die wärmsten Phasen traten im Warmsektor auf, also verfeinern wir unsere Hypothese:
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Hypothese 8 – sind WETTERLAGEN, wie sie in den letzten Tagen im Warmsektor der Westlage zu beobachten waren für die Schneeverteilung verantwortlich?
Verfolgen wir diesen Gedanken weiter...wie sieht die Situation in den westlichen Alpen bei Westlagen im Warmsektor aus?
In der Regel dominiert SW-Wind. Manchmal dominieren Süd-Föhneffekte, manchmal Starkregen durch Weststau, verfeinern wir unsere Hypothese erneut:
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Hypothese 9 – sind folgende Wetterlagen: SÜDFÖHN/WESTSTAU IM WARMSEKTOR für Schneeverteilung verantwortlich?
Die belegende Begründung würde den Rahmen dieses Postings sprengen, deshalb die Kurzfassung:
Adelboden befinden sich in einem SW-NE orientierten Tal. In den Alpen ist besonders bei talachsenparallelem Druckgefälle gute Durchmischung zu erwarten, dass heisst wärmere Luft verdrängt die im Tal liegende Kaltluft rasch. Bei SW-Wind müsste also Adelboden rasch wärmer werden. In Montana müsste die Temperatur auch ansteigen, aber langsamer: warum? Das Druckgefälle liegt 45° zur Talachse. Während das Tal in Adelboden gegen NE offen ist, schliesst das Rhonetal gegen Osten, was der Durchmischung nicht förderlich ist. Das Goms (Ulrichen) ist abgeschlossen, der Kaltluftsee wird nur mit Mühe ausgeräumt. Hier müsste die Temperatur steigen, sobald Wolken aufziehen. Die dynamische Durchmischung viel schwächer...
...und so präsentierte sich die Situation heut morgen (unterschiedliche Skala!):
Ab 19 Uhr setzte Druckfall ein, bis 22 Uhr fiel die Temperatur auf –7.7 Grad. Danach stieg die Temperatur an, zuerst nur leicht, ab Mitternacht kräftig, so dass es um 6 Uhr über 10 Grad wärmer war mit fast +3°! In Adelboden gibt es in der Regel kein Föhndurchbruch, sondern ein allmähliches Aufleben des Südwestwindes (seichtes Einfliessen). Dies zeigt das sich die Kaltluft sehr leicht ausräumen lässt.
In Montana ist der Verlauf ähnlich, jedoch ohne Föhneffekt. Die Temperatur stieg um lediglich 4 ° (Skala!) – ohne Windzunahme.
Ulrichen = Kaltluftsee, ab 2 Uhr Wolkenfelder. Temperaturdifferenz zu Adelboden um 22 Uhr noch kaum 2 Grad, ein paar Stunden später bis 13.5 Grad!
Bei SW-Wind erwärmt sich die Luft trockenadiabatisch bis Adelboden (also SW-Föhn). Oft reagiert Adelboden als eine der ersten Stationen der Schweiz! Dies ist der Schneedecke im wahrsten Sinn des Wortes „abträglich“.
Bei Südföhn schmilzt die Schneedecke in Adelboden rasch, in Montana langsam und in Ulrichen oft gar nicht (Frost.)
Bei Weststau und Warmfront aus Nordwesten verhält es sich anders. Oft regnet es in Adelboden. Die Warmluft setzt sich in den westlichen Nordalpen durch, die Schneefallgrenze steigt. In den Zentralalpen kann sich die Kaltluft halten, die Schneefallgrenze bleibt tief. Besonders bei Warmfronten aus Nordwesten, da die Schichtung sehr stabil ist.
Zusammenfassung: In Ulrichen, Montana, Adelboden fallen zwar ähnliche Schneemengen, aber die Schneeschmelze ist unterschiedlich intensiv. Während Kaltluft in Adelboden rasch ausgeräumt wird, die Schneeschmelze früh beginnt und intensiv ist, wird die Kaltluft in Ulrichen kaum ausgeräumt, die Schneehöhe bleibt stabil und wächst beim nächsten Schneefall. In Adelboden ist inzwischen viel Schnee geschmolzen, die Schneedecke muss sich beim folgenden Schneefall neu aufbauen.
Hoffe, das dieser lange Beitrag nicht langweilig war. Viele Grüsse aus Adelboden, wo der Schnee wieder schmilzt, ja es hat SW-Wind, besser gesagt Südwestföhn...
Philippe
